Sonntag, 7. August 2011

Aufstand der Blockwarte und der Sinn des Verbergens

Ich fühle mich wieder mal, als wäre ich in Groundhog Day gelandet, allerdings der Twilight-Zone-Version. Selbst die Medien und sogar einige wenige Politiker beginnen langsam zu verstehen, dass dieses komische Internet nicht Das Böse per se ist, da krabbelt der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich aus dem Sommerloch und fordert das Ende der Anonymität im Netz in Axel E. Fischers Fußstapfen. Mit seinen Kontroll- und Überwachungsideen ist er da nicht alleine, und beim gewünschten Klarnamenzwang haben er und seine Brüder im Geiste mittlerweile Mitstreiter aus einer Ecke gewonnen, die aus anderen Gründen daran interessiert ist, jeden eindeutig und auf Dauer zu identifizieren, der im Internet unterwegs ist.

Mancher mag einwenden, dass ein Pseudonym so wichtig nicht ist, und jeder zu dem stehen sollte, was er im Netz äußert. Doch diese Annahme lässt die grundsätzliche Asymmetrie außer Acht, die politische, juristische, finanzielle und andere Einflussfaktoren hier ins Spiel bringen, sowie die praktische Permanenz und Rückverfolgbarkeit aller Aktivitäten im Netz. All dies bringt den Normalnutzer in eine unterlegene Position gegenüber jenen, die mehr Macht und Möglichkeiten haben als er. „Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten“ – wirklich? Aber der Reihe nach.

Der Massenmord-Anschlag eines rechten Fundi-Christen in Norwegen ist für viele Politiker ein willkommener Anlass, ihre gebetsmühlenartigen Forderungen nach mehr Überwachungsmaßnahmen zum Vorgaukeln von Sicherheit zu wiederholen und ihre Agenda voranzutreiben. Zu den Lieblingsprojekten nicht nur europäischer Politiker (und vermutlich der hinter ihnen stehenden Lobbyisten) gehört dabei die Vorratsdatenspeicherung, die alle Bürger unter Generalverdacht stellt – und das, obwohl genau diese Speicherung in Norwegen den Doppelanschlag Anders Breiviks nicht verhindern konnte. Die Kampflinien verlaufen dabei parteiübergreifend, ein SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel reiht sich hier ebenso ein wie ein wie CDU-Mann Siegfried Kauder, immerhin Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, der sein Verfassungsverständnis zeigt mit der Äußerung „Es ist Mode geworden, die Freiheitsrechte des Bürgers in den Vordergrund zu stellen“.

Das grundsätzliche Problem des Ansatzes „(repressive) Sicherheit statt Freiheit“ beschreibt Rechtsanwalt Thomas Stadler:

„Nichts von alledem, was uns als Terrorbekämpfung verkauft wurde, bietet den Menschen Schutz vor solchen Anschlägen, weil sich die Taten Einzelner nicht mit Mitteln der Überwachung verhindern lassen. Es ist deshalb auch nicht besonders klug, nach neuen Maßnahmen wie einer Datei mit auffälligen Personen zu rufen. Zumal es auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen schlicht nicht zielführend ist – ganz unabhängig von den rechtsstaatlichen Bedenken – immer noch mehr Heu auf den Haufen zu werfen.“

Stadler weist auch anhand des Beispiels Deutschland darauf hin, welches Instrumentarium bereits im Einsatz ist, und dass aufgrund des Umfangs und der Reichweite der zulässigen Maßnahmen selbst ohne deren Missbrauch Anlass zur Sorge besteht. Ähnlich sieht es sein Berufskollege Udo Vetter, der Norwegen als Reflextest wahrnimmt und in „Der Überwachungs- und Ausgrenzungsstaat“ mit den Propagandisten des Panopticons hart ins Gericht geht:

„Konsequenterweise müsste Uhl also die Präventivüberwachung an sich Unverdächtiger fordern. Und zwar in der Form, dass die Polizei sich ohne konkreten Anlass mal einfach so in Gespräche reinschalten darf, in geschlossenen Chats mitliest oder über eine Schnittstelle zu deinem und meinem E-Mail-Postfach verfügt. Das wäre Prävention im Uhlschen Sinne, damit könnte sich vielleicht auch was im Kampf gegen verquere Einzeltäter ausrichten lassen.

Warum ist Uhl dann nicht ehrlich und verlangt gleich die Möglichkeit der anlasslosen Totalüberwachung jedes Bürgers (Bundestagsabgeordnete selbstverständlich ausgenommen)?

(…) Die Forderungen der Uhls und Witthauts führen uns genau an die Grenze und darüber hinaus, bis zu der Demokratie und Rechtsstaat noch ihren Namen verdienen – und erträglich erscheinen. Anders gesagt: Wer ohne Scheu den Überwachungs- und Ausgrenzungsstaat promotet, verhilft dem norwegischen Tatverdächtigen zu dem von ihm erhofften Triumph. Genau diesen Staat wünscht sich der Betreffende nämlich.“

Während Vetter auch darauf hinweist, dass Mission Creep keine leere Befürchtung und etwa die deutsche Steuer-ID ideal für den Aufbau umfassender Persönlichkeitsprofile ist, verdeutlicht Markus Beckedahl mit der Übertragung auf den Alltag diesseits des Internets, welcher „Brandgefährliche Stammtischquatsch“ solche Netzkontrollphantasien sind:

„Würde jemand im normalen Leben das fordern, was zum Beispiel die Vorratsdatenspeicherung bedeutet, dann würde ihn jeder für vollkommen verrückt erklären: es würde protokolliert werden, mit wem wir uns in den letzten sechs Monaten unterhalten haben, wo wir uns aufgehalten haben. Es würde protokolliert, in welches Geschäft wir gegangen sind, welches Buch und welche Zeitung wir gelesen haben.

Nimmt man die Sperrphantasien hinzu, würde das Beispiel heißen: unerwünschte und gefährliche Orte werden aus Stadtplänen gelöscht, damit man sie nicht mehr finden kann. Und wenn der Stammtisch gerne die Inhalte auf den Leitungen überwachen möchte, die sogenannte Deep Packet-Inspection, dann wäre das so, als ob man jederzeit in Ihre Aktentasche, Ihr Portemonnaie, Ihre Einkäufe und ihr Wohnzimmer gucken würde. Und wehe, Sie kaufen Blumendünger.“

Florian Altherrs Einwurf „Wir schützen unsere Freiheit nicht, indem wir sie abschaffen“ ist in dieser Hinsicht wenig hinzuzufügen. Einen Überblick über aktuelle Strömung in Sachen Netzpolitik und deren Grundlagen gibt Wolfgang Kleinwächter, Professor für Internetpolitik und -regulierung an der Universität Aarhus, in „20 Jahre WWW: Prinzipienschwemme im Cyberspace – Wie Regierungen Softlaw nutzen, um das Internet zu regulieren, und warum eine Internetdiplomatie des 21. Jahrhunderts entwickelt werden muss“.

Mein Name ist Legion

Der Gegensatz „Zwang zum Klarnamen“ versus „Recht auf Anonymität und Pseudonymität“ entwickelt sich gerade zum neuen Brennpunkt der Gesellschaft im Netz bzw. der gesellschaftlichen Auswirkungen des Lebens im Netz. Auch wenn das Feuer hier schon länger schwelt, haben Facebook und aktuell besonders Google mit den Bedingungen und Sanktionen für Google+-Nutzer die Flammen angefacht.

Nicht nur im beruflichen Umfeld können einen Jugendsünden und unbedachte Äußerungen noch Jahre später einholen, wenn sie im Netz getan wurden. Angesichts dessen, was Menschen unter anderen Umständen riskieren, wenn sie in vielerlei Zusammenhängen jederzeit eindeutig identifizierbar sind, erscheinen solche Folgen geradezu trivial. Doch auch ohne unmittelbare Gefahr für Leib und Leben sind sie wichtig genug, nicht alles unter Klarnamen ins Netz zu stellen. Für die Electronic Frontier Foundation hat Jillian York dies in „A Case for Pseudonyms“, inzwischen deutsch als „Gute Gründe für Pseudonyme“ begründet:

„Es gibt tausende von Gründen, warum jemand einen anderen Namen benutzen möchte, als seinen Geburtsnamen. Manche Leute haben Sorge, dass ihr Leben oder ihre Existenzgrundlage bedroht werden oder dass ihnen politisch oder ökonomisch Nachteile entstehen. Andere wollen Diskriminierung vermeiden oder einfach einen Namen nehmen, der leichter zu merken oder buchstabieren ist.

Es ist natürlich das Recht von Firmen wie Google, Facebook oder wem auch immer, Strategien und Grundsätze zu entwickeln, von denen sie denken, dass sie besser zu ihren Services passen. Aber es ist kurzsichtig von diesen Firmen, zu sagen, dass die Echtnamen-Pflicht zu einem zivileren Netz führe, wenn der Preis dafür Vielfalt und Meinungsfreiheit sind. Denn in der Tat hat die Echtnamen-Pflicht nur eine ernüchternde Wirkung (chilling effect) auf die freie Rede und die Meinungsfreiheit im Netz.“

Noch pointierter wird Danah Boyd, die in ihrem Essay „‘Real Names’ Policies Are an Abuse of Power“ den Klarnamensverfechtern Machtmissbrauch und Gefährdung vorwirft:

„The people who most heavily rely on pseudonyms in online spaces are those who are most marginalized by systems of power. ‘Real names’ policies aren’t empowering; they’re an authoritarian assertion of power over vulnerable people. These ideas and issues aren’t new (and I’ve even talked about this before), but what is new is that marginalized people are banding together and speaking out loudly. And thank goodness.

There is no universal context, no matter how many times geeks want to tell you that you can be one person to everyone at every point. But just because people are doing what it takes to be appropriate in different contexts, to protect their safety, and to make certain that they are not judged out of context, doesn’t mean that everyone is a huckster. Rather, people are responsibly and reasonably responding to the structural conditions of these new media. And there’s nothing acceptable about those who are most privileged and powerful telling those who aren’t that it’s OK for their safety to be undermined. And you don’t guarantee safety by stopping people from using pseudonyms, but you do undermine people’s safety by doing so.“

Die Einzigartigkeit der von Facebook und Google+ geforderten eineindeutigen und dauerhaften Rückführbarkeit jeglicher Äußerung online hat Alexis Madrigal in „Why Facebook and Google's Concept of ‘Real Names’ Is Revolutionary“ herausgearbeitet, und ebenso, warum Pseudonyme hier unverzichtbar sind:

„There is a continuum of publicness and persistence and anonymity. But in real life, we expect very few statements to be public, persistent, and attached to your real identity. Basically, only people talking on television or to the media can expect such treatment. And even then, the vast majority of their statements don't become part of the searchable Internet.

Online, Google and Facebook require an inversion of this assumed norm. Every statement you make on Google Plus or Facebook is persistent and strongly attached to your real identity through your name. (…)

In the language we were using earlier, pseudonyms allow statements to be public and persistent, but not attached to one's real identity.“

Mittlerweile macht sich selbst in eher onlinefernen Medien die Erkenntnis breit, dass das Netz Anonymität zulassen muss, und für ein deutschsprachiges Publikum erläutert Blogger Mark793 bei FAZ online in „Wer bin ich und wie viele?“ das grundsätzliche Problem vieler Netizens, dass „real“ ein kontext- und umgebungsabhängiger Begriff ist:

„(…) hält Google an dem erklärten Ziel fest, einen Begegnungsort zu schaffen, an dem ‚sich reale Menschen mit anderen realen Menschen verbinden können‘. Dabei muss man kein Poststrukturalist oder ähnliches sein, um diesen Realitätsbegriff für einigermaßen wacklig oder zumindest konstruiert und willkürlich zu halten. Ich habe als mark793 ganz real in einem Frankfurter Café mit anderen Bloggern vor zahlendem Publikum Geschichten gelesen. Und wenn ich als Marco Settembrini real genug bin, um im Online-Angebot dieser altehrwürdigen Zeitung zu publizieren, dann reicht es doch, wenn die Buchhaltung meinen Realnamen und die Bankverbindung hat. Google ist weder meine Hausbank noch mein Vermieter noch ein Auftraggeber, also wo genau liegt jetzt das Realitätsdefizit meiner pseudonymen Existenz? Was ist mit all den vielen Leuten, die im Netz unter ihren Nicknames viel bekannter sind als unter ihrem Realnamen, warum sollten ausgerechnet diese Leute bei Google plus außen vor bleiben?“

Wie gesagt: Es gibt mehr als genug Gründe für Anonymität und Pseudonymität diesseits und jenseits des Netzes, und das Netz funktioniert ganz wie der normale Alltag und versinkt nicht in Chaos und Anarchie, nur weil nicht jeder ständig mit Namensschild und gezücktem Ausweis herumläuft. In der Zwischenzeit gilt es daran zu denken, dass man nicht alles auf ein Pferd setzen und sich nicht zu sehr von einem Anbieter abhängig machen sollte. Das Risiko gerade bei einer Monokultur ist doch erheblich, und selbst im Kleinen kann man als einfacher Nutzer von heute auf morgen mit leeren Händen datstehen, wie ich selbst es schon bei blog.de erfahren habe.

Der Kampf um ein freies Internet hört nicht auf. Es ist kein gutes Zeichen, wenn es für eine Satire ausreicht, in einer Pressemitteilung der „Reporter ohne Grenzen“ einfach den Namen „Iran“ gegen „Deutschland“ auszutauschen, und es auf den ersten Blick noch nicht einmal wie Satire aussieht. In diesem Sinn kann ich mich Konstantin Kleins Brief an die lieben Internet-Nichtversteher anschließen:

„(…) Und ja, auch vor Erfindung des Internet fanden Bösewichte Möglichkeiten, ihre Untaten zu verabreden. ‘s isch wahr.

Aber das wird euch nicht abhalten, weiter am Netz herumregulieren und euch zum Narren machen zu wollen. Wahrscheinlich trauert ihr auch noch den Bahnsteigkarten und den Selbstschussanlagen an roten Ampeln hinterher.

Ach, die letzteren gab’s gar nicht? Schade, wa?“

Keine Kommentare: