Sonntag, 22. Februar 2009

Wann ist man Experte?

Da ich sowohl Bondage als auch Fotografie schon einige Zeit betreibe, werde ich hin und wieder in Sachen Knoten, Positionen oder Kameratechnik und Lichtführung um Rat gefragt. Ich gebe dann gerne Auskunft und kann zuweilen sehr apodiktisch sein. Doch obwohl ich auf Basis meiner Erfahrungen spreche, habe ich angesichts dessen, was andere auf diesen Gebieten können, nicht selten Zweifel: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“

In anderem Zusammenhang bin ich vor kurzem auf Jeff Atwoods Artikel Are You an Expert? gestoßen. Atwood fasst die Quintessenz eines Experten in zwei Maximen zusammen:

  1. Stell alles in Frage, zuerst Dich selbst.
  2. Sei nicht der Typ, der allen erzählt, was sie zu tun haben, sondern sei der Typ, der alle Fragen stellt.

Für ihn ist ein Experte jemand, der sein Wissen flexibel und situationsbezogen anwenden kann, weiß, welche Fragen er stellen muss und vernünftige, kontextbezogene Anweisungen geben kann.

Atwood bezieht sich auf James Bach, der mit How I learn stuff seit kurzem auch ein Blog zum Thema Kompetenzerwerb und persönliche Expertise betreibt. Bach geht angelehnt an klassische Modelle von einem kontinuierlichen Lernprozess aus, der über vier Erkenntnisstufen führt:

  • Stufe 0: Überwinden der Unbewusstheit bzw. Ignoranz – man begreift, dass es etwas zu lernen gibt.
  • Stufe 1: Überwinden der Schüchternheit – man spürt, dass man etwas über ein Thema lernen oder eine Fähigkeit erwerben kann. Man weiß genug darüber, um sich nicht mehr von Leuten einschüchtern zu lassen, die mehr wissen als man selbst.
  • Stufe 2: Überwinden der Zusammenhanglosigkeit – man fühlt sich nicht länger als Blender, sondern kompetent genug, um das Thema zu diskutieren oder die Fertigkeit auszuüben. Die eigenen Aussagen entsprechen dem, was man tatsächlich zu wissen glaubt.
  • Stufe 3: Überwinden der Kompetenz – man fühlt sich eher konstruktiv selbstkritisch als selbstzufrieden „gut genug“. Man riskiert Neues, entdeckt, lehrt, fordert sich selbst heraus und will sich mit anderen begeisterten Fachleuten aus diesem Gebiet austauschen.

Die meisten von Bachs Empfehlungen für frischgebackene Experten kann ich nur unterstützen, selbst wenn Bach sie auf sein Fachgebiet bezieht und nicht das Knotenknüpfen an Begünstigten im Sinn hat:

  • Üben, üben, üben!
    der Königsweg auch in Sachen Bondage.
  • Verwechsle nicht Erfahrung mit Expertise
    Ansonsten gerät man schnell auf Abwege.
  • Trau keinen überlieferten Weisheiten – aber mach Dich dennoch mit Ihnen vertraut
    Wichtig, um tradierte Mythen kritisch unter die Lupe nehmen und entkräften zu können.
  • Nimm nichts auf Treu und Glauben. Gib die Kontrolle über Deine Methodik nicht aus der Hand.
    Auch hier: kritische Prüfung sorgt für Sicherheit und Verständnis.
  • Kümmere Dich selbst um Deine Weiterbildung, niemand sonst wird es tun.
    Gut, auf den professionellen Bereich abgehoben – aber auch auf unserem Spielfeld von Bedeutung, und aus Respekt vor dem Gegenüber und dessen Unversehrtheit bei einer Session ist es unabdingbar, sich kundig zu machen.
  • Reputation = Geld. Bau Dir einen Ruf auf und schütze ihn.
    Auch wenn man kein Geld damit verdienen will: Reputation ist gerade online eine wichtige Währung, und die Szene selbst ist so übersichtlich und vernetzt, dass ein guter oder schlechter Ruf schnell weithin bekannt sind. Man sollte die Meinung Dritter nicht unterschätzen – und auch nicht Vehemenz und Verbreitungsgeschwindigkeit böser Gerüchte.
  • Hör nicht auf, Quellen, Materialien und Werkzeuge zu sammeln.
    Im Klartext: Bleib neugierig und verschaff Dir Hintergrundwissen; schadet nie und kommt dem Gegenüber ebenso zugute wie dem Spielspaß.
  • Lege Deine Standards und Ethik fest.
    Und halte Dich daran.
  • Vermeide Zeugnisse und Zertifizierungen, die die Fertigkeit trivialisieren.
    Man wird nicht per Urkunde zum Nawashi oder Dom, sondern dadurch, dass man tut, was man kann, und sein Können stetig ausbaut.
  • Pflege den Umgang mit anspruchsvollen Fachkollegen
    Lerne von anderen Experten, auch wenn es anstrengend ist. Für den Bereich Bondage und BDSM nicht nur wegen des Pappnasenfaktors manchmal schwer, doch wenn sich die Gelegenheit bietet – nutzen.
  • Schreib und sprich öffentlich und bleibe dabei immer wahrhaftig.
    Was nebenbei ein guter Weg ist, sich Reputation zu erarbeiten und andere Menschen mit wertvollem Wissen und interessanten Fertigkeiten kennenzulernen.

Insgesamt jedenfalls ein sehr sportliches Anforderungsprofil. Muss man sich das alles geben, nur um ein wenig Spaß mit Seil und Gerte zu haben? Sicher nicht. Andererseits hat ein wenig Expertise noch nie geschadet, um Sachen, die man gerne macht, besser und damit mit mehr Spaß und Lust auszuüben. Ich sehe für mich doch in einigen Bereichen Nachholbedarf und in den Maßstäben einen guten Wegweiser.

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