Samstag, 15. März 2008

Erschütterung, vom Arzt verordnet

Erst jetzt darüber gestolpert: Slate hat im letzten September eine Sonderausgabe zum Thema Sex veröffentlicht. Neben Thomas Laqueurs Rezension von Niklaus Largiers Geschichte der Flagellation, In Praise of the Whip: The Cultural History of Arousal, hat mich vor allem die Diashow zu Your Grandmother's Vibrator zum Stöbern im Netz angeregt.

Ende des 19. Jahrhunderts war die Genitalmassage als erfolgreiche Behandlungsmethode für Hysterie, das häufigste aller Frauenleiden, fest etabliert. So etwas wie ein weiblicher Orgasmus existierte nach herrschender Lehrmeinung nicht, doch ließen sich die Symptome der Hysterie durch Entladung aufgestauter Spannungen lindern. Viele Ärzte verdankten ihre gutgehenden Praxen einer stattlichen Anzahl regelmäßig einbestellter Patientinnen. Ihnen zum „hysterischen Paroxysmus“ zu verhelfen, bedeutete für die Mediziner häufig anhaltende und anstrengende Handarbeit. So sann mancher auf Methoden, das Verfahren durch mechanische Hilfsmittel zu erleichtern.

Nach Experimenten mit Handkurbel- und sogar Dampfantrieb (George Taylor, 1869) setzte sich schließlich Elektrizität als Antriebsquelle durch. Um 1880 patentierte der britische Arzt Dr. Joseph Mortimer Granville einen elektromechanischen Vibrator, den er übrigens ausdrücklich nicht zur Behandlung weiblicher Hysterie eingesetzt sehen wollte. Schon durch ihre schiere Größe blieben derartige Geräte zunächst auf Praxen beschränkt. Doch um die Wende zum 20. Jahrhundert erkannten findige Unternehmer die Marktchancen kleinerer Vibratoren für Privatanwender.

So wie Sex und Pornographie maßgeblich am Erfolg des Videorekorders und des World Wide Webs teilhatten, so war die Suche nach einem kompakteren Vibrator mit entscheidend für die Entwicklung kleiner, zuverlässiger Elektromotoren für Haushaltsgeräte. 1902 patentiert, war der handliche Elektrovibrator nach Nähmaschine, Ventilator, Wasserkocher und Toaster eines der ersten Elektrogeräte für den Hausgebrauch. Staubsauger und elektrisches Bügeleisen wurden erst mehr als zehn Jahre später patentiert.

1917 existierten mehr Vibratoren als Toaster in amerikanischen Haushalten, und unzählige Anzeigen bewarben die Geräte als Heilmittel für eine Fülle von Leiden von Kopfschmerzen bis Muskelverspannungen. Die Filmindustrie – auch hier war Sex Garant für den Erfolg des neuen Mediums – stoppte den Höhenflug abrupt: Pornofilme demonstrierten die Einsatzmöglichkeiten zu offensichtlich, und seit den 20er Jahren waren Vibratoren offiziell verpönt. 1952 legte die American Medical Association das Krankheitsbild der weiblichen Hysterie ad acta und entzog dem Vibrator damit endgültig die Reputation eines für therapeutische Zwecke einsetzbaren Geräts. Bis in die 70er Jahre boten Hersteller nur verschämt „Massagegeräte“ an.

Einen visuellen Streifzug durch die Vibrator-Geschichte von der Jahrhundertwende bis in die 1970er bietet das Antique Vibrator Museum des Sextoy-Anbieters Good Vibrations, während das Antique Vibrator and Quack Medical Museum sich auf die Frühzeit konzentriert.

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